PÜHN Rechtsanwälte - Mandantenrundschreiben 01/2024 - Arbeitsrecht - Erschütterung des Beweiswerts von Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen
16. Januar 2024 - Mandantenrundschreiben 01/2024
Arbeitsrecht - Erschütterung des Beweiswerts von Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen
Wer arbeitsunfähig ist, braucht nicht zu arbeiten. Das Entgeltfortzahlungsgesetz regelt, dass der Arbeitgeber bis zur Dauer von sechs Wochen dem erkrankten Arbeitnehmer die volle Vergütung zahlt. Aber was tun, wenn Zweifel aufkommen, ob der Arbeitnehmer, der eine ärztliche Krankschreibung vorlegt, tatsächlichen arbeitsunfähig ist?
Der Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung ist hoch. Einer ordnungsgemäß ausgestellten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung kommt aufgrund der normativen Vorgaben im Entgeltfortzahlungsgesetz ein hoher Beweiswert zu. Um diesen zu erschüttern, muss ein Arbeitgeber konkrete Umstände aufzeigen, die geeignet sind, ernstliche Zweifel an der Richtigkeit der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung zu begründen. Der bloße Verdacht einer nicht ordnungsgemäßen Diagnose genügt ebenso wenig wie der Einwand, die arbeitsvertraglich geschuldete Tätigkeit lasse sich auch trotz der diagnostizierten Erkrankung noch erbringen, so die Richter am Bundesarbeitsgericht im Urteil vom 28. Juni 2023, Az. 5 AZR 335/22.
Legt jedoch ein gekündigter Arbeitnehmer eine Krankschreibung vor, die genau bis zum Ende des Arbeitsverhältnisses reicht, mag das dem ein oder anderen Arbeitgeber verdächtig vorkommen. Um das Attest zu erschüttern, müssen konkrete Indizien vorliegen. Eine solche Erschütterung kann dann gegeben sein, wenn sich der Arbeitnehmer im Anschluss an eine vom Arbeitgeber erhaltene Kündigung krankmeldet oder das Attest passgenau bis zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses ausgestellt ist. Das haben die Richterinnen und Richter des Bundesarbeitsgerichts (BAG) in der aktuellen Entscheidung vom 13.12.2023, Az.: 5 AZR 137/23 klargestellt.
Anlass der Entscheidung war die Krankmeldung eines mit Hilfstätigkeiten betrauten Arbeitnehmers einer Zeitarbeitsfirma. Für diese war der Mann seit Mitte März 2021 tätig. Am 2. Mai 2022 reichte der Zeitarbeiter dann eine AU ein, die ihn aufgrund einer Infektion der oberen Atemwege bis zum 6. Mai 2022 krankschrieb. Als sie das Attest erhielt, kündigte die Zeitarbeitsfirma das Arbeitsverhältnis ordentlich fristgerecht zum 31. Mai 2022. Mit Attest vom 6. Mai 2022 bis einschließlich 20. Mai 2022 wurde die Krankschreibung mit fortbestehender Diagnose verlängert; dann reichte der Arbeitnehmer ein drittes Attest ein, das ihn bis zum 31. Mai 2022 als arbeitsunfähig einstufte. Dieses enthielt als weitere Diagnose einen nicht näher bezeichneten Stresszustand.
Das Unternehmen glaubte dem Mitarbeiter aber nicht und verweigerte die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall gem. § 3 EFZG. Dass die Krankschreibung passgenau bis zum Ende des Arbeitsverhältnisses ausgestellt wurde, während die neue Tätigkeit des Mannes taggenau danach beginnen sollte, machte die Leiharbeitsfirma misstrauisch. Der Beweiswert der AU sei erschüttert, so die Argumentation des Unternehmens. Der Mitarbeiter klagte hiergegen und war mit seiner Zahlungsklage sowohl erstinstanzlich als auch vor dem Landesarbeitsgericht erfolgreich.
Das Bundesarbeitsgericht hob mit seinem Urteil die Entscheidung der Vorinstanz jedoch teilweise auf. Eine zeitliche Koinzidenz zwischen dem Beginn der AU und dem Zugang der Kündigung sahen die Richter für die AU-Bescheinigung vom 2.Mai 2022 nicht, sodass der Beweiswert nicht erschüttert ist. Bezüglich der AU-Bescheinigungen vom 6. Mai und 20. Mai ist der Beweiswert jedoch erschüttert. Zwischen der in den Folgebescheinigungen festgestellten passgenauen Verlängerung der Arbeitsunfähigkeit und der Kündigungsfrist bestand eine zeitliche Koinzidenz. Zudem hat der Kläger unmittelbar nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses eine neue Beschäftigung aufgenommen (Wunderheilung?). Nachrangig sei, ob es sich dabei um eine Kündigung des Arbeitgebers oder um eine Arbeitnehmereigenkündigung handelt und ob für den Beweis der Arbeitsunfähigkeit eine oder mehrere Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen vorgelegt werden. Wichtig bleibe stets die einzelfallbezogene Würdigung der Gesamtumstände. Im vorliegenden Fall hatte dies zur Folge, dass nunmehr der Kläger für die Zeit vom 7. bis 31.Mai 2022 die volle Darlegungs- und Beweislast für das Bestehen der Arbeitsunfähigkeit und somit den Anspruch auf Entgeltfortzahlung trägt.
Die Erschütterung des Beweiswerts eines ärztlichen Attests führt also nicht automatisch zum Entfallen des Anspruchs auf Entgeltfortzahlung des Arbeitnehmers. Die Folge ist, dass die Beweislast auf den Arbeitnehmer zurückfällt. (Er kann die Krankheitsumstände näher erläutern, ärztliche Befundberichte beibringen oder den Arzt als Zeugen im Zahlungsprozess benennen.)
Mit diesem Urteil setzt der fünfte Senat des BAG seine Rechtsprechung zu den geänderten Anforderungen an den Beweiswert ärztlicher Atteste fort, die er mit einer Entscheidung vor rund zwei Jahren eingeläutet hatte (Urteil vom 8.9.2021, Az.: 5 AZR 149/21). Dort war die passgenaue Krankschreibung schon einmal Thema. In dieser Entscheidung wiesen die höchsten deutschen Arbeitsrichterinnen und -richter die Zahlungsklage einer Zeitarbeiterin ab. Diese hatte eine Eigenkündigung ausgesprochen und am gleichen Tag ihrem Arbeitgeber eine AU überreicht. Übergabe der Kündigung und Ausstellung der Krankschreibung sowie Krankheitsdauer und Ende des Arbeitsverhältnisses fielen jeweils passgenau zusammen.
Fazit:
Arbeitgeber werden zukünftig bei AU-Meldungen im Zusammenhang mit Kündigungen genauer hinsehen. Fallen Kündigung und Krankmeldung zeitlich unmittelbar zusammen, kann der hohe Beweiswert der ärztlichen Krankschreibung entfallen. Die Umstände des Einzelfalls, die über eine Erschütterung entscheiden, bleiben jedoch maßgeblich.
Wir helfen Ihnen gern bei der Einschätzung im konkreten Fall.
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Prof. Dr. Junghanns
Rechtsanwalt
Fachanwalt für Steuerrecht
Fachanwalt für Handels- und Gesellschaftsrecht